Journalismus und die Sehnsucht nach authentischer Wahrheit – Deutsches Medienmisstrauen

“Ihnen kommt letzlich schon jeder redaktionelle Eingriff wie ein Verbiegen der Wahrheit vor.”

In Deutschland kämpft der Journalismus seit einigen Jahren gegen eine überraschend große Menge von Leuten, die der Mainstreampresse nicht trauen. Aus der ‘linken’ Ecke kommend, habe ich das zunächst nicht so ernst genommen, denn mit Medien gehen wir schon auch kritisch um. Da nimmst du die Nachrichten mit Vorsicht auf, glaubst sowieso nicht, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt, dann interessierst du dich auch für ein wenig Medien- und Identitätstheorie, und versuchst, wenn du weißt, von welcher Zeitung ein Artikel kommt, deren Einstellung oder Voreingenommenheiten mitzubedenken und dich so diesem “wibbily wobbly timey wimey” sexy kleinem Ding namens Wahrheit anzunähern. Ich spreche hier aber von etwas anderem. Diese neue Welle von Medienkritik geht mit einem Mangel an Interesse daran einher, wie Journalismus funktioniert. Wenn diese Leute denken, dass die Presse lügt, verwechseln sie ‘konstruiert’ mit ‘lügen’. Daraus resultiert, dass ihnen letztlich schon jeder redaktionelle Eingriff wie ein Verbiegen der Wahrheit vorkommt, ein Schritt weg von dem, was ‘tatsächlich’ passiert ist.

Was die Sache noch schlimmer macht: Es kommt auch noch eine ärgerliche Dosis Anti-Intellektualismus dazu. Die Klassen- und Bildungslücke zwischen vielen Journalist*innen und und einem großen Teil ihres Publikums könnte zu dieser Dissonanz beitragen. Und es ist schwer, auch nur Basis-DeSaussure anzubringen, wenn jemand auf gesunden Menschenverstand und Bauchgefühl als argumentative Waffen seiner oder ihrer Wahl besteht, um sich dem, was wahr ist, zu nähern.

“Aus den Träumen der Wearable-Tech-Leute und aus dem antiintellektuellen Medienmisstrauen spricht die gleiche Sehnsucht nach Objektivismus und authentischer Wahrheit, die den beängstigend fließenden Zustand der Welt zähmen sollen.”

“Worte werden eher als eine Verschleierung von Ehrlichkeit wahrgenommen, denn als Mittel, sie zu überbringen”, erklärt William Davies in einem Artikel über den Aufstieg der Wearables, Facebook und Amazon. Ich denke, dass es diesselbe Sehnsucht nach Authentizität und Wahrheit, sowie das selbe (Miss)Verständnis und die Ferne von Theorie sind, die zu beidem führen, zu diesem besonderen Typ von Medienskepsis und zu dem, wovon Zuckerberg spricht, wenn er von ungefilterter telepathischer Kommunikation als Zukunft redet:

“Wir werden Augmented Reality und andere Geräte haben, die wir fast ununterbrochen tragen können, um unsere Erfahrung und Kommunikation zu verbessern. Eines Tages werden wir, glaube ich, fähig sein, einander durch die direkte Nutzung von Technologie vollständige, reiche Gedanken zu schicken. Du wirst an etwas denken können, und deine Freunde werden es sofort auch erleben können, wenn du willst. Das wäre die ultimative Kommunikationstechnologie.” (William Davies zitiert Zuckerberg, The Atlantic)

Es ist vielsagend, dass der Mann, der verantwortlich für das soziale Netzwerk ist, das am meisten vermittelnd in Kommunikation eingreift, also für die am wenigsten direkte Kommunikation steht, von einer ungefilterten Kommunikation träumt. (Wenn du schnell mal eine unterhaltsame Gegenperspektive möchtest, versuch’s mit ‘Greeks bearing gifts‘, einer Episode von Torchwood über ein telepathisches Wearable. Ich frage mich übrigens, ob es die Sache mehr oder weniger besorgniserregend macht, sich vorzustellen, dass diese Tech Guys anscheinend nie Gedanken daran verschwenden, wie tiefgreifend alle ihre Gedanken kontrollieren müssten, damit das zu einer akzeptierten alltäglichen Form von Kommunikation werden könnte.) Die Träume dieser Technikleute und die anti-intellektuelle Medienskeptik klingen beiden ein wenig wie “reduzier uns bitte auf Biologie, Theorie und Sprache ist zu schlüpfrig”. Biologie bedeutet für die einen das Zähmen des Körpers mit Technologie, für die anderen ist es das Zähmen des Wissens über die Welt mit gesundem Menschenverstand und Urteilen aus dem Bauch heraus. Aus beiden spricht eine Sehnsucht nach Objektivismus und authentischer Wahrheit, die den beängstigend fließenden Zustand der Welt zähmen sollen.

“Die kulturelle Verschiebung von einer offen kontrollierten Gesellschaft wie der DDR zu einer Gesellschaft, in der du einen Mix aus mehr Freiheit, aber auch einer Menge verschleierter Kontrolle hast, könnte einen weitaus größeren Unterschied machen als wir gedacht hatten.”

Aber zurück zur deutschen Journalismus-Skepsis. Gestern hatte ich ein kleines Geburtstagskaffekränzchen mit Familienangehörigen, auf dem jemand zu kritisieren begann, dass Medienbilder von Flüchtlingen derzeit immer nur Frauen und Kinder zeigen, obwohl er doch von einem Bekannten wisse, der in der Verwaltung arbeite, dass es in Wahrheit 90% männliche Flüchtlinge seien. Ich sagte, (bereuend, dass ich keine Zahlen parat hatte), dass die Logik dahinter sein könne: Es gab hier einen Anstieg von Anti-Flüchtlingsprotesten und -Verbrechen, und rassistische Menschen nehmen männliche Geflüchtete oft als eine größere Bedrohung wahr als Frauen oder Kinder. Es könnte doch sein, dass die Presse einfach hofft, so Empathie statt Angst zu erzeugen.  Das brachte das Gespräch darauf, dass Nachrichten “gemacht” würden. Er sagte, dass er nicht einsehe, warum die Presse nicht einfach zeigt, was wirklich da ist, und die Leute selber interpretieren lässt. Daraufhin erwiderte ich, dass Nachrichten sowieso niemals objektiv seien, weil allein schon die Auswahl, was du zu einer Story machst und was nicht, ein Urteil beinhaltet. Ein Bild zeigt auch immer nur einen Ausschnitt einer Szene, aus dem Kontext gerissen: es zeigt nicht, was außerhalb des Ausschnitts passiert, es zeigt nicht, was vorher und nachher passiert, es zeigt nicht, warum ein Redakteur dieses Foto gewählt hat, usw. Er erwiderte mit dem Erlebnis einer Freundin, die bei der Stadt arbeitet und zu einem der Notfall-Teams gehörte, die geschickt wurden, um letzte Woche, als die deutsche Regierung zwei Tage lang alle Flüchtlinge reinließ, den am Bahnhof ankommenden zu helfen. Dort wurde ihr, als Teil ihres Jobs, angeordnet, dass sie “Refugees Welcome”-Banner hochhalten oder aufhängen sollte. Für die Medien. Angeblich. Bei mir blinken bei solchen Geschichten, und der Vermutung, warum sie erzählt werden, alle PEGIDA Warnlämpchen auf, aber eigentlich gehört dieser Mensch nicht in diese Ecke. Soviel ich weiß. Ihn erinnere das – völlig abgesehen davon, ob sie hinter dem Inhalt des Transparents steht oder nicht – zu sehr an seine Jugend im früheren Ostdeutschland. Daran, wie sie gezwungen waren, bei extra für die staatlich kontrollierten Medien veranstalteten Events Fahnen zu schwingen. Ihm in die Augen zu sehen, während er davon erzählte, ließ mich das erste Mal verstehen, dass es da eine verdammt große Empfindlichkeit gibt, die Westdeutsche nicht wirklich nachvollziehen können. Mir war zwar bewusst, dass das Misstrauen gegenüber Journalismus im aus dem früheren Ostdeutschland stammenden Teil der Bevölkerung stärker ist, aber irgendwie hat es hier zum ersten Mal bei mir Klick gemacht. Die kulturelle Verschiebung von einer offen kontrollierten Gesellschaft wie der DDR zu einer Gesellschaft, in der du einen Mix aus mehr Freiheit, aber auch einer Menge verschleierter Kontrolle hast, könnte einen weitaus größeren Unterschied machen als wir gedacht hatten. Die verschleierte Kontrolle ist natürlich auch etwas, was viele Westdeutsche kritisieren, aber aus einer ganz anderen kulturellen, gesellschafts-politischen Erfahrung heraus.

“Es ist eins der großen Themen unserer Zeit, dass mit dem Social Web der Mythos der neutralen Objektivität zerschmettert worden ist, und das Echo davon hallt nun durch so viele Bereiche unserer Leben.”

Füge da nun noch die kulturelle Veränderung hinzu, die im Laufe der letzten Jahre dadurch entstand, dass die Mainstreambevölkerung das soziale Web zu nutzen begann und entdeckte, dass es da draußen eine Vielzahl von Perspektiven auf die gleichen Events gab. Es ist eins der großen Themen unserer Zeit dass mit dem Social Web der Mythos der neutralen Objektivität zerschmettert worden ist, und das Echo davon hallt nun durch so viele Bereiche unserer Leben. Der gefährliche Anstieg des Misstrauens gegenüber dem Journalismus ist eine dieser Wellen. Ich bin kein Fan des Gatekeeper-Mechanismus der alten Medien, weil er nur die Perspektive eines sehr engen Spektrums von Menschen als Status Quo verallgemeinerte. Trotzdem denke ich, ihn zu verlieren, ohne dass an seine Stelle ein neuer, um mehr Diversität bemühter Mechanismus tritt, der zwischen all den kontroversen Stimmen, die eine Gesellschaft ausmachen, vermitteln kann, ist gefährlich. Wir brauchen vermittelnde Werkzeuge, Mechanismen, Foren, usw., um zu einem gesellschaftlichen Konsens zu gelangen, aber sie müssen demokratischer, interaktiver und diverser ausfallen als es der alte Gatekeeper-Journalismus war. Sonst wird sich dieses Gefühl, betrogen zu werden, an dem so viele zu leiden scheinen, weiter ausbreiten. Und daraus wird weiter Misstrauen wuchern, das zu der Erosion von Solidarität führt, die wir in Form von so vielen Hassbotschaften im Netz und auf der Straße erleben.

“Dieses Misstrauen ist es auch, was eine Woge von neuen kleinen viralen Medien ausbeutet: Jung&Naiv, Ken.FM, Ruptly – alle auf verschiedenen Ebenen”

Dieses Misstrauen ist es auch, was eine Woge von neuen kleinen viralen Medien ausbeutet: der Journalismus des gesunden Menschenverstands, den Jung&Naiv betreibt, ist nicht wirklich weit weg von Ken.FMs Verschwörungsshow, oder vom verflixten Ruptly, dass so tut, als sei es frei von jeglicher Agenda. Sie alle haben diese Truther Poste inne: Wir zeigen euch die echte Sache, nicht mit Meinung verschmutzt, wir sind die authentischen News, wir enthüllen die geheime Agenda der Mächtigen. Zu ihnen fliehen viele derjenigen, die den Mainstreammedien misstrauen. Selbstverständlich werden die Enthüllungen, die diese Sorte viraler Medien betreibt, niemals den Hunger ihrer Publikums befriedigen, denn es gibt nun mal nicht eine große geheime Agenda, genausowenig wie es eine objektive Wahrheit gibt. Aber Menschen hängen an ihren Lippen, bei jeder enthüllten Schicht hoffend, dass es die letzte sei, die endlich freilegt, was wirklich hinter allem steckt. Die eine einfache feststehende Wahrheit, die sie von der schrecklichen, sich dauernd verändernden Komplexität der Welt heilt. Was dies kleinen viralen Medien tun, ist eigentlich sowas wie eine endlose Stripshow, die darüber funktioniert, ein konstantes Erregungslevel zu halten, und die von der Erregung profitiert, statt an Aufklärung und Lösungen interessiert zu sein. Sie nutzen die Sehnsucht nach Authentizität und Wahrheit aus, die ein Zeichen unserer Zeit ist, und sich von Digital Detox bis zu Bio-Essen durchzieht.

“Es ist ein Unterschied, ob Medien verschiedene Perspektiven auf ein Ereignis vermitteln, oder ob sie sich dafür hergeben, unkritisch als Meinungsmacher für das zu fungieren, was die Regierung für die angemessene gesellschaftliche Perspektive auf ein Ereignis hält.”

Es gibt natürlich auch Fälle, in denen die großen Medien tatsächlich dazu verwendet werden, Meinungen zu formen. Es ist ein Unterschied, ob Medien verschiedene Perspektiven auf ein Ereignis vermitteln, oder ob sie unkritisch als Meinungsmacher für das zu fungieren, was die Regierung für die angemessene gesellschaftliche Perspektive auf ein Ereignis hält. (Im Zweifel würde ich immer die simpelste Regel der Satire übernehmen: Von oben nach unten treten ist ein No-Go.) Noch einmal ein Beispiels aus der Behandlung von Geflüchteten: Eine zeit lang wurden die großen Nachrichten in Deutschland von Stories über aggressive Anti-Flüchtlings-Proteste und Brandanschläge auf Flüchtlingsheime dominiert, und waren sehr abgekoppelt von der Perspektive von Geflüchteten. Angst und Hass wurde damit als die in Deutschland weit verbreitete Reaktion auf Flüchtlinge wahrgenommen. Rassist*innen feierten das als Zeichen ihrer Macht, Zahl und ihres Erfolgs. Dann gab es eine große Verschiebung in der Presse, um dem mit Nachrichten über Solidarität zu kontern,  die Stories von Flüchtlingen zu zeigen, davon zu erzählen, wie viele Leute in Deutschland Geflüchteten helfen und sie willkommen heißen. So wurde Solidarität mit Flüchtlingen als der gesellschaftliche Konsens präsentiert. Als der Journalismus noch für die gesellschaftliche Mehrheit als Gatekeeper fungierte, war er fast das einzige Fenster, durch das Leute auf solche Ereignisse blicken konnten. Damals hätte so ein Move funktioniert als “oh, die Deutschen haben sich geändert, nun sind sie alle für die Flüchtlinge”. Heute aber wird so eine Veränderung in der Berichterstattung auch wahrgenommen als “ähm, warum denn dieser plötzliche neue Fokus in all den Zeitungen, wo doch immer noch Brandanschläge auf Flüchtlingsheime erfolgen?” Das “Guck mal da drüben, ein Solidaritätseichhörnchen!” funktioniert nicht mehr so gut wie früher. Durch soziale Medien ist die Öffentlichkeit sich mehr dessen bewusst, dass diese Story nur so erzählt werden konnte, weil Merkel nachgeholfen hat, es in eine nachrichtenwürdige Notsituation zu verwandeln. Die erschöpfende Langzeithilfe für Geflüchtete ist zu langweilig, um darüber zu berichten: das würde niemand lesen. Um Aufmerksamkeit zu bekommen, brauchen wir Krisenmomente, Bilder wie die überfüllten Bahnhöfe.

“Ich bin immer noch wütend über diese paar Tage, in denen Merkel Menschen als taktische Spielfiguren benutzte.”

Ich bin immer noch wütend über diese paar Tage, in denen Merkel Menschen als taktische Spielfiguren benutzte; Menschen, die sowieso schon in der schlimmsten Lage sind, von ihrem Zuhause vertrieben, in unmenschlichen Camp-Situationen endend, oft über Jahre hinweg, und das wird dann auch noch als großherzige Hilfe des Retters gefeiert. Wenn dieses Benutzen von Menschen, ihrer Situation und ihrer Emotionen das ist, was Regieren in den Zeiten von Social Data und Media ausmacht, sieht’s so aus als ob wir ein paar höchst unterhaltsame Jahre vor uns haben könnten. Brot und Spiele 3.0.

Ich beende diesen Blogpost an dieser Stelle, weil ich noch was arbeiten muss und sowieso gerade auf kein schickes Ende komme, denkt euch einfach irgendwas Richtung: Der Journalismus muss sich seiner veränderten Rolle noch mehr bewusst werden, oder: wir brauchen mehr Soziologie, die sich mit Digitalisierung auseinandersetzt, und das nicht in abgeschlossenen akademischen Bereichen, sondern öffentlich für alle verständlich. Aber ich höre nicht auf, ohne einen der Tweets zu erwähnen, die mich darauf brachten, das alles hier aufzuschreiben:

“So the newspapers are going to run with “top button undone” as news, but not “pig-fucker in chief”, and still claim not to be biased?”
Huw Lemmy (dessen Buch Chubz ich hier immer noch nicht besprochen habe, fällt mir ein, aber holt es euch – es ist großartig.)

(Falls es wirklich noch Leute gibt, die nichts von #Hameron / #piggate mitbekommen haben sollten: Lemmy kritisiert hier, dass Corbyn für Nichtigkeiten von der britischen Presse durch den Dreck gezogen wird, während Cameron sogar ein Schwein in einem Studentenclub ficken kann, der ihm letzlich sogar hilft, überhaupt erst in die Position zu kommen, die er heute innehat, und trotzdem fasst ihn die Presse mit Samthandschuhen an.)

Dieser und ein paar andere die Presse kritisierenden UK Tweets brachten mich darauf, dass ich noch gar nichts über eine ähnliche Medienskepsis-Bewegung aus anderen Ländern gehört habe. Ich frage mich, ob es sowas gibt, und falls ja, was an denen spezifisch ist? (Die gleiche Sehnsucht nach authentischer Wahrheit? Ein ähnlicher Anti-Intellektualismus? Vielleicht ein Nord/Süd-Ding, das der Ost/West-Unterschieden hier entsprechen könnte? Oder etwas ganz anderes? Oder ist das “Lügenpresse”-Ding etwas Deutschlandspezifisches?) Joshuah Hersh z.B. vergleicht PEGIDA / “Lügenpresse” mit Tea Party / mainstream media”.

P.S.: Einer noch: “Gettin piggy with it“, Cassetteboy. ^^

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