“Network of blood” – Nathan Jurgensons Webtheorien

Illustration von Martin Müller www.183off.com
Illustration von Martin Müller www.183off.com

 

Once upon a pre-digital era, there existed a golden age of personal authenticity, a time before social-media profiles when we were more true to ourselves, when the sense of who we are was held firmly together by geographic space, physical reality, the visceral actuality of flesh.

Märchenstunden dieser Art kennen alle aus dem Feuilleton oder von YouTube-Clips wie “I forgot my phone” oder “Look up”. Parallel zur Verbreitung der Smartphones hat sich eine Bewegung entwickelt, die sie als sozial isolierend verdammt und jeden im Netz verbrachten Moment als einen betrachtet, den du im „echten“ Leben verpasst. “Digital Detox”, “Unplugging”, “Disconnecting” – die Abstinenz vom Netz, und sei es nur eine gemeinsame Mahlzeit im Freundeskreis lang, wird mit großen Gesten zelebriert und findet sich oft in das Umfeld von Wellness und ethischem Konsum eingebettet. Das gipfelt in Auswüchsen wie der Tap Project App von Armani und Unicef: Diese App misst, wie lange du es aushältst, dein Smartphone nicht zu checken, und pro zehn Minuten, die du offline verbringst, bekommt ein Kind in einer notleidenden Region für einen Tag den Wasservorrat, den es zum Überleben benötigt. Wenigstens wird dir dabei nicht ein sterbendes Kind – Tamagotchi-Style – angezeigt, falls du doch vorzeitig wieder online gehst. Bei so viel Besorgnis gegenüber digitaler Vernetzung ließe sich meinen, “unsere Integrität als Menschen stünde auf dem Spiel.” So Nathan Jurgenson, ein junger US-amerikanischer Soziologe, der sich intensiv damit auseinandersetzt, wie neue Webtechnologien uns und die Gesellschaft verändern.

Er schreibt seit Jahren gegen dieses Denken an, das er als “Digitalen Dualismus” bezeichnet. Dieser stellt eine falsche Nullsummenrechnung an: Die Zeit, die wir online verbringen, fehlt uns angeblich offline. Als würden wir aus der Offline-Welt verschwinden, sobald wir online gehen. Da wir aber nicht in der Filmwelt von Tron leben, tun wir das ebenso wenig, wie wenn wir telefonieren oder ein Buch zur Hand nehmen. Jurgenson sieht dies als konzeptionellen Fehlschluss: “Technologie, vor allem Social Media, wird als zu abgetrennt von denen betrachtet, die sie nutzen.”

Augmented Reality

Vor allem dank mobilem Web stehen unser Online- und unser Offline-Leben in einer immer stärkeren gegenseitigen Wechselbeziehung, die Jurgenson als “Augmented Reality”, als erweiterte Realität, bezeichnet: eine weiter gefasste “konzeptionelle Perspektive, die unsere Realität als Nebenprodukt der gegenseitigen Durchdringung von On- und Offline erschafft.” Der Begriff stammt ursprünglich von Technologien, bei denen das Digitale und das Physische sich überlagern, zum Beispiel in Form einer Reiseführer-App, bei der du zu einem Gebäude, das du durch die Fotolinse deines Smartphones betrachtest, Informationen eingeblendet bekommst. Augmented Reality ist von Jurgenson nicht als Gegenpol oder kulturhistorischer Nachfolgebegriff zum Digitalen Dualismus gemeint, sondern ersetzt eine von Beginn an falsch konzipierte Beziehung zur Technologie:

Diese Digital Dualists entwerfen das Web ähnlich wie in dem Film Matrix (1999), in dem On- und Offline getrennte Räume sind. Dagegen hält die Perspektive der Augmented Reality, dass unsere Realität da entsteht, wo On- und Offline verschwimmen, wie es im Film vielleicht am besten in Cronenbergs Body-Horror Film Videodrom (1983) veranschaulicht wird, der die Implosion von Technologie, Medien und materiellem Körper aufzeigt.

Wem an dieser Stelle Cyborgs in den Sinn kommen: Nicht von ungefähr heißt der Blog, den Jurgenson zusammen mit PJ Rey ins Leben gerufen hat, Cyborgology.

Das Facebook-Auge

Die Struktur und Logik von Social Networks und Smartphones verändert die Art, wie wir die Realität wahrnehmen und strukturieren – auch offline. Jurgenson erklärt das in “The Facebook Eye” am Beispiel des “Kamera-Auges”, das Fotograf*innen entwickeln: Das Auge wird zum Sucher, und auch wenn sie ohne Kamera unterwegs sind, sehen Fotograf*innen überall mögliche Motive und nehmen den Lichteinfall wahr. Social Networks wie Facebook beeinflussen uns in ähnlicher Weise, da sie uns “die Welt immer als potentielles Foto, als Tweet, als Check-In oder als Statusupdate erleben lassen.” Das bezeichnet Jurgenson als “Facebook-Auge”. Nebenbei sei hier auch mit dem Vorurteil vom unsozialen Netzmenschen aufgeräumt: “Und eben weil Social Media unsere Offline-Leben erweitern (nicht ersetzen), zeigen Untersuchungen, dass Facebook User mehr Offline-Kontakte haben als Nicht-User, sich mehr engagieren, und so weiter.”

Augmented Dissent

Nathan Jurgenson ist davon überzeugt, dass es nicht als historischer Zufall betrachtet werden wird, sondern dass “das Aufkommen von Mobiltelefonen und Social Media für immer mit globalen Massenmobilisierungen von Menschen im physischen Raum verbunden sein wird.” Vom Arabischen Frühling über Occupy bis zu den Gezi-Park-Protesten spielten Social Media eine große Rolle und manifestieren par excellence “Augmented Dissent.” Wo andernorts politisches Engagement im Netz oft als “Slacktivism” zerredet wird, also als faules und letzlich wirkungsloses Engagement, betont Jurgenson auch hier die dialektische Verschränkung von On- und Offline. Ob zur Organisation lokaler Besetzungen, großer Proteste oder um Neuigkeiten zu verbreiten, ob als Hashtag-Aktion auf Twitter, ob als Fotos oder Smartphone-Filme auf YouTube: Ohne auf traditionelle Medien angewiesen zu sein, haben Social Media Proteste und Protestformen in vielschichtiger Weise durchdrungen und geprägt. Diese sind durch das Netz partizipatorischer denn je geworden, und auch die Solidarität und Teilnahme Außenstehender wird besser wahrnehmbar. “Eine tiefliegende Bedrohung für jede Protestbewegung besteht darin, dass der Ehrgeiz und die Motivation sowie das Gefühl der Hoffnung, jedes Individuum könne etwas bewegen, schwindet. Mit Social Media können Leute den Unterschied, den sie machen, auch sehen. Sie konsumieren Dissenz nicht nur passiv, sondern beteiligen sich aktiv daran, ihn zu schaffen.” Social Networks bieten ein Publikum für Inhalte:

Protestierende rufen nicht mehr nur in den (aus Atomen bestehenden) Wind, sie rufen auch in ein (aus Bits bestehendes) Netzwerk.” Ebd. Facebook-Kommentare, Twitter-Retweets und -Replies stärken uns: “Erweitert um das Internet scheint das, was wir tun, mehr zu zählen. Das ist die nicht-mehr-ganz-so-geheime Waffe der ‘Augmented Revolution’.”

Utopia for whom?

Das Netz wurde lange Zeit eher als Ort, denn als Werkzeug für Alternativen gesehen. Die trügerische Wild-West-Verheißung des frühen Internets: ein neuer freier Raum zu sein, in dem sich etwas Großartiges , jenseits der unterdrückenden Realitäten von Geschlecht, Hautfarbe, körperlicher Fähigkeit, Ressourcenknappheit aufbauen lasse, in dem alte einengende Strukturen von heldenhaften Cyberpunks und Hacker-Cowboys weggefegt werden würden … ja, genau, unterbricht Jurgenson seine eigene Beschreibung schneidend: “Those were boy’s clubs”. Diese alte Utopie wischt er beiseite, denn: Nichts davon hat es jemals außerhalb der alteingesessenen sozialen Konstruktionen, Institutionen und Ungleichheiten gegeben, nein, diese sind der Technologie sogar ins Innerste eingeschrieben.

Als Beispiele nennt er die versteckten Profitmotive der Open-Source-Bewegung, wie sie Fred Turner aufgezeigt hat oder die Tatsache, dass Wikipedia die Kreation von Wissen ein paar weißen Männern aus den Händen genommen hat, nur, “um sie in die Hände von ein wenig mehr weißen Männern zu legen.” Er führt Lawrence Lessig und Saskia Sassen an, die die soziale und historische Bedingtheit von Computer Code erläutern, oder Danah Boyd, die gezeigt hat, wie stark Coding-Entscheidungen auf sozialen Netzwerkseiten aus den Voreingenommenheiten der (zum Großteil männlichen) Webingenieure resultieren – und das nicht selten zum Nachteil weniger mächtiger und verletzlicherer Menschen. Dass, wie Jurgenson meint, dominante Gruppen sich selbst als “neutrale” bzw. “natürliche” Menschen betrachten, hat eine lange Tradition. Und wer behauptet, Technologie sei objektiv und entsprechend in ihrem Rahmen handelt, ist ein Teil davon: Die Annahme einer Objektivität des Netzes und generell von Technologie ist ebenso wie der gesamte Digitale Dualismus nicht einfach nur falsch; sie ist auch gefährlich, da auf diese Weise Formen sozialer Ungleichheit unsichtbar gemacht werden.

Nathan 1

“Im Falle von Onlinedrohungen gibt es eine Person, die die Realität des Internets ganz intuitiv zu spüren bekommt: Die, die bedroht wird”, sagt Jurgenson. “Dass das, was im Netz passiert, nicht real sei, ist eine Konstruktion, die denen, die eine Drohung äußern, und denen, die sie rechtlich untersuchen, viel leichter fällt, als denen, die von ihr unmittelbar betroffen sind. Einer Frau zu sagen, sie solle doch ihr Laptop einfach eine zeitlang nicht mehr benutzen, ist, als würdest du ihr empfehlen, ihre Familie eine zeitlang nicht mehr zu sehen.” Trotzdem wird genau dieser Ratschlag von nicht besonders netz-affinen Polizist*innen nicht selten Frauen erteilt, die eine Internet-Vergewaltigungsdrohung zur Anzeige bringen wollen. Die Journalistin Amanda Hess erklärt: “Das ist für viele Frauen aber keine Option: Digitale Netze werden verwendet, um Communities zu finden, die sie unterstützen, um Geld zu verdienen oder um Auffangnetze zu spannen. Für eine Frau wie mich, die alleine lebt, ist das Internet kein Zeitvertreib zum Spaß oder zur Zerstreuung. Es ist eine notwendige Ressource für die Arbeit und gibt mir die Möglichkeit mit Freund_innen oder meiner Familie Kontakt zu halten.” Nathan Jurgenson kritisiert: “Silicon Valley hat die Macht, die Gesellschaft nach seinen Werten zu formen, die Offenheit und Konnektivität priorisieren. Aber warum wird es Ingenieuren [zum Großteil sind es Männer, Anm. E.M.] in Kalifornien überlassen, für Menschen überall auf der Welt zu entscheiden, was eine Belästigung ausmacht?”

Auch hier zeigt sich von welch großer Bedeutung die Perspektive der Augmented Reality ist: “Wenn wir begreifen, dass Politik, Strukturen und Ungleichheiten der physischen Welt ebenso Teil der digitalen Sphäre sind – einer Sphäre, die von Menschen mit Geschichten, Standpunkten, Interessen, Moralvorstellungen und Voreingenommenheiten errichtet wurde – dann ist das der erste Schritt um sie sichtbar zu machen und reflektieren zu können.” Und erst von diesem Punkt aus kann sinnvoll kritisiert und wirkungsvoll interveniert werden. Netzabstinenz aber ist weder eine Lösung für Belästigung im Netz noch um wieder in “Einklang” mit unserem vermeintlich “authentischen” Selbst zu gelangen.

The Liquid Self

“And our selves are not separated across these two spheres as some dualistic “first” and “second” self, but is instead an augmented self. A Haraway-like cyborg self comprised of a physical body as well as our digital Profile acting in constant dialogue.”*

Zwischen Konzepten des Selbst als vermeintlich authentischem Ausdruck einer seelenhaften Essenz und dem Selbst als Produkt sozialer Konstruktion und Performanz besteht ein Konflikt, den Jurgenson weit vor die Zeit der Social Networks zurückverfolgt: Von Max Weber über Zygmunt Bauman, von Jean Baudrillard bis zur Frankfurter Schule gibt es eine lange Tradition, die davon ausgeht, dass, wann immer die „natürliche“ Welt im Namen von Bequemlichkeit, Effizienz oder Sicherheit eine Veränderung erfährt, dies stets mit einem Verlust eines Teils ihrer Essenz oder Wahrheit einhergeht. Ganz besonders gilt das für Identitätstheorien. Von Cooleys „Looking Glass Self“ über Foucaults „Arts d’existence“ bis zu Butlers „Identitätsperformativität“: Theorien des Selbst setzen sich schon lange mit der Spannung zwischen Realem und Pose auseinander. Die genannten Theorien sind sich, so Jurgenson, auch einig darin, dass Menschen in der westlichen Gesellschaft generell ungern zugeben, dass das, was sie sind, strukturiert oder performt wird: „Poser“ oder „Selbstdarsteller*in“ genannt zu werden, stellt eine Beschimpfung dar; sich selbst treu sein dagegen drückt eine fixe Wahrheit des Selbst aus.

Der Diskurs der Digitalenthaltsamkeit nimmt genau diese Spannung auf: „Wenn das Digitale als ausschließlich virtuell missverstanden wird, dann fühlt sich das Ausklinken wie ein mutiges Wiedereintauchen in die Wildnis und Natur der Realität an. Wenn Identitätsperformance als Nebenprodukt von Social Media abgetan werden kann, dann haben wir eine neue Lösung für das alte Problem der Authentizität: „Klink dich aus! – Deine Menschlichkeit steht auf dem Spiel!“ Als ob durch die Abkehr von Technologie ein fixes authentisches Selbst wiederhergestellt werden könne. Jurgenson hält fest: „Wir können nicht weiterhin die Person als das zeitlich und kausal Vorgängige ansehen, und das Profile als etwas, das nur eine Darstellung derselben ist. Wir haben klare stichhaltige Belege dafür, dass die Person vom Profile* mitkonstruiert wird. Das Erleben erschafft die Dokumentation, und die Dokumentation erschafft das Erleben.“

Umso wichtiger ist es, ein dynamischeres Verständnis des Selbst durchzusetzen: „Anstelle eines einzigen, sich nicht verändernden Selbst, sollten wir uns ein fließendes Selbst, ein ‚Liquid Self’ vorstellen, eines das mehr Verb als Substantiv ist.“ Je mehr wir allerdings darauf beharren, dass digitale Vernetzung unser authentisches Selbst bedroht, desto mehr stärken wir die Fiktion eines fixen Selbst.

Pathologisierung des Digitalen

The smartphone is a machine, but it is still deeply part of a network of blood; an embodied, intimate, fleshy portal that penetrates into one’s mind, into endless information, into other people. These stimulation machines produce a dense nexus of desires that is inherently threatening. Desire and pleasure always contain some possibility (a possibility — it’s by no means automatic or even likely) of disrupting the status quo.

Der Aufruf zur digitalen Abstinenz geht oft mit einer Pathologisierung einher, wie Jurgenson feststellt. Kaum verwunderlich, wenn du bedenkst, dass es ja letztlich bei der Authentizitätsbesessenheit um eine Festschreibung dessen geht, was als normal gelten soll. Und was ist das Normale anderes, als eine Form des Gesunden? An Foucault erinnernd, der gesagt hat, beim Diagnostizieren einer Krankheit ginge es immer gleichermaßen darum, festzulegen, was gesund sei, fragt Jurgenson, was hier als neue Formen von Gesundem, von Normalität erschaffen werden soll. Es soll uns eine Technologieverantwortlichkeit auferlegt werden, die einen neuen Typus der Regulierung von Lust darstellt: Das digitale Verlangen gehört, gesehen und informiert zu werden, soll kontrolliert werden.

Digitale Enthaltsamkeit ist ein Polizist, den wir uns in unsere Köpfe heruntergeladen haben und der uns immer unser persönliches Verhältnis zu digitalem Verlangen bewusst macht.“ Der Angst vor dem Kontrollverlust wird durch Regulierung ein Riegel vorgeschoben: Neue Tabus werden errichtet, damit auch das digitale Verlangen nicht die Grenzen dessen überschreitet, was als „natürlich“, „menschlich“, „real“, „gesund“ und „normal“ gelten soll – „authentischer Widerstand gegen anderer Leute ungesundes und unauthentisches Sein“. Er führt aus: „Um ein Verlangen zu neutralisieren, muss ein moralisches Problem daraus gemacht werden, dessen wir uns ständig bewusst sind: Ist es okay, hier auf einen Bildschirm zu starren? Wie lange? Wie hell darf er sein?“

Das kennen wir zum Beispiel von den Beschwerden über hochgereckte Smartphones bei Konzerten. Das Unsound Festival hatte 2013 sogar ein Smartphoneverbot ausgesprochen – ein Statement für das authentische Erleben? Jurgenson stellt das in einem Interview mit Jason Farman in Frage: Wenn wir jede Technologie als etwas sehen, das uns am „echten“ Erleben hindert, sollten wir einmal unsere Handies wegstecken und eine Liste der Dinge erstellen, durch die das Konzert immer noch durch Technologie vermittelt erfahren wird. Die Architektur des Raums, dass wir Richtung Bühne blicken, ist eine Technologie, die unser Erlebnis formt. Auch was wir zum Konzert anziehen, markiert eine Technologie der Selbstpräsentation. Jurgenson wehrt sich dagegen, dass wir gegenseitig unsere Authentizität kontrollieren oder einander bewerten, wer nun authentischer und damit menschlicher ist. Wir sind alle Poser, selbst jene Leute, die bewusst keine Fotos auf Konzerten machen, um uns zu damit zeigen, dass sie für den Moment leben. Ein Konzertfoto oder Selfie heischt nicht unbedingt eitel um Aufmerksamkeit, sondern kann auch einfach der Kommunikation dienen; kann sagen, wo wir gerade sind oder dass wir es schön fänden, wenn noch andere da wären. Wir sollten Leuten gegenüber Verständnis haben, die ein soziales Erlebnis kommunizieren, ganz gleich auf welche Weise sie das tun. Besteht nicht, fragt Jurgenson, der eigentliche Narzissmus der Social Media in der kollektiven Vertiefung darin, sie regulieren zu wollen und zu entscheiden, was für andere erlaubt und gesund sei?

Die digitale Regulierungswut äußert sich oft unreflektiert. Ein Beispiel dafür lässt sich dort finden, wo sich sexuelles und digitales Verlangen vermengen: Sexting, das, vor allem wenn es um Jugendliche oder Frauen, geht, geradezu dämonisiert wird. Jurgenson enlarvt das als Teil einer gesellschaftlichen Tendenz, die sexuelle Handlungsmacht von Jugendlichen und Frauen auszublenden: als ob Sexting automatisch etwas wäre, das ihnen angetan oder von der Technologie auferlegt wird. Als ob es auf keinen Fall als Handlungsmöglichkeit betrachtet werden könne, bei der sie sich aus eigener Entscheidung spielerisch ausprobieren. Dass Sexting gerade für sozial verletzlichere Menschen eine sicherere Option sein kann, als sich auf körperliche sexuelle Interaktion einzulassen, wird dabei meist ignoriert.

Was hier eigentlich reguliert werden soll, ist das sexuelle Verlangen von Jugendlichen und Frauen: „Die Probleme, die mit Sexting assoziiert werden, haben mehr mit Sexismus als mit Sex oder Technologie zu tun.“ Jurgenson fordert stattdessen mehr Respekt im Umgang mit Privatsphäre und dem sexuellen Einverständnis, das an die Stelle von Victim-Blaming treten soll, wenn beim Sexting die Privatsphäre verletzt wird. Das wiederum verlangt nach einer Kritik der Geräte und sozialen Plattformen, die dafür zur Verantwortung gezogen werden sollten, wie viel Kontrolle sie den Nutzer*innen darüber einräumen, wie, mit wem und für wie lange sie etwas teilen.

Mehr Privatheit denn je

Es besteht kein Zweifel, dass wir durch Social Media öffentlicher geworden sind: Wir posten mehr Informationen über uns. Durch Smartphones sind wir häufiger mit dem Netz verbunden als früher, und ständig werden neue Informationsschichten erfunden: vom geographischen Check-In bis zum Herzschlagmesser der Health-App. Stärker noch als zu der Zeit, als Anonymität und Fakenamen noch üblich waren, sind unsere Onlineaktivitäten bei Facebook, wo die meisten Nutzer*innen mit ihrem Realnamen angemeldet sind, oder beim Online-Shopping mit unserer physikalischen Welt verknüpft. Jurgenson behauptet allerdings, dass mit unserer wachsenden Öffentlichkeit auch unsere Privatsphäre gewachsen sei: „Wir stellen uns Privatheit und Öffentlichkeit als Konflikt vor. Tatsächlich aber sind sie wie der Fächertanz ein sich gegenseitig verstärkendes System.“ Jurgenson und PJ Rey zitieren dazu den frühen Hacktivisten Eric Hughes: „Privatheit bedeutet, die Macht zu haben, selbst zu wählen, was der Welt von uns gezeigt wird.“

Um ihre Position zu illustrieren, greifen sie zu einem Bild aus der Burleske: dem erotischen Fächertanz. Nicht der komplett entblößte oder gänzlich verhüllte Körper des/der Tanzenden kennzeichnet ihn. Sein Reiz entsteht aus dem kreativen Wechselspiel, bei dem manches gezeigt und anderes verdeckt wird. Privatsphäre liegt in der dialektischen Performance und ist kein fixer, vor den Augen der anderen verborgener Ort. Wie aber kommt Jurgenson darauf, dass dies bedeute, dass mit unserer Öffentlichkeit auch unsere Privatsphäre wächst? Jedes Stück Information, das wir preisgeben, verbirgt genauso viel von uns, wie es enthüllt. Auf Bataille zurückgreifend erklärt Jurgenson, dass immer, wenn wir etwas Neues lernen, zugleich unser „Vorrat an Nicht-Wissen“ anwächst. Mit jeder neuen Information können wir Fragen stellen, die wir zuvor nicht hätten stellen können. Genauso verhält es sich mit unseren Informationen im Rahmen der Social Media: Wenn jemand ein Foto postet, können wir uns fragen, wer es gemacht hat, wer dabei noch anwesend war, wie es in Verbindung zu anderen in einem Album steht. Auch wenn wir uns diese Folgefragen nicht bewusst stellen, wissen wir doch stets, dass jede einzelne Information nicht die ganze Geschichte eines Ereignisses enthalten kann.

Ethik der Straßenfotografie

Neben der Kontrolle darüber, was wir zeigen, gehört zu einer funktionierenden Privatsphäre auch die darüber, wann und wo wir das tun. Nathan Jurgenson erläutert, wie die Überwachung durch Konzerne und Regierungen genau so wie allgegenwärtige Handyschnappschüsse zu einer kulturellen Perspektive geworden sind, bei der die Welt mit der Ethik von Straßenfotograf*innen behandelt wird: „Menschen in der Öffentlichkeit sind Objekte, die für sich beansprucht und ausgestellt werden können.“ Der Blick des oder der Straßenfotograf*in fängt ein, was provokativ oder catchy an jemandem ist – ihre Viralität, in Webspeak ausgedrückt. Im richtigen Moment wird abgedrückt und das Flüchtige eingefangen, um es in etwas Produktives zu verwandeln: Es wird gesammelt, zur Schau gestellt und sogar zu Geld gemacht.

Dieses „public’s public“-Denken, das alles Öffentliche als dokumentarisches Freiwild betrachtet, bleibt nicht auf den Bereich der Fotographie beschränkt: Tweets werden aus ihrem Zusammenhang, ihrem Stream, gerissen und auf News-Sites gepostet. Jurgenson erzählt auch von einer App, die öffentlich gepostete Facebook- und Foursquare-Daten dafür nutzte, um Frauen in der Nähe anzeigen zu lassen. Kritik erfolgt meist ähnlich wie beim Sexting als Victim-Blaming. Jurgenson zitiert dazu aus einem Artikel von Kashmir Hill aus der Forbes: „’You’re too public with your digital data, ladies,’ may be the new […] ‘your skirt was too short and you had it coming.’“ Einen Höhepunkt dieser Logik sieht er mit Google Glass erreicht, denn hier ist nicht einmal mehr erkennbar, ob du gerade gefilmt wirst oder nicht. Inzwischen gibt es vermehrt auch kritische Stimmen, z.B. die Datentheoretikerin Helen Nissenbaum, die Einwilligung und kontextuelle Integrität fordern, also dass Erwartungen, die dadurch entstehen, wo etwas gepostet wird, auch eingehalten werden. Denn: Öffentlich ist eben nicht gleich öffentlich.

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Endloses Archiv

Ein anderer Zenit ist im Überhandnehmen des Dokumentierten erreicht. „Ein Foto“, so Jurgenson, „ist genauso aus Zeit gemacht wie aus Licht.“  Theoretiker wie Andreas Kitzmann („museale Geste“) oder Jean Baudrillard („Museumifizierung“) haben die Logik der Kamera als Inbesitznahme eines Erlebnisses interpretiert. Wo früher nur wichtige Ereignisse fotografisch festgehalten wurden, ist heute infolge der Allgegenwart von Fotografie der Punkt erreicht, an dem es einem besonderen Augenblick letztlich mehr Gewicht verleiht, ihn nicht zu dokumentieren, als ein Foto davon zu machen. Je mehr Fotografien es gibt, desto weniger bedeuten sie. Instagram mit seinen nostalgischen Faux-Vintage-Filtern sieht Jurgenson als einen exemplarisch gescheiterten Versuch, Bildern durch optische Angleichung an historische Fotos wieder mehr Gewicht zu verleihen: zu „versichern, dass gegenwärtiges Leben genauso authentisch und nostalgiewürdig ist wie die scheinbar seltenen Bilder unserer analogen Vergangenheit.“

Das Festhalten an einem kategorisierbaren archivierten Selbst, wie es unsere Selbstdarstellung auf Social Networks wie Facebook verlangt, engt uns ein. „Dahinter steht eine Philosophie, die das Unordentliche und die Fluidität des Selbst nicht einfängt und daran scheitert, Wachstum zu feiern, und die vor allem schlecht für die am sozial Verletzlichsten ist.“ Nostalgie ist für Jurgenson eine Form der Besitzstandswahrung: Ihr gehe es darum, das Leben anzuhalten, zu behalten, in soziales Kapital umzumünzen – im Gegensatz zu einer Perspektive, für die es in Ordnung ist, dass Dinge vergehen, weil es Raum für Veränderung schafft. Bei den meisten Social Networks gehe es jedoch nur darum, die Gegenwart als zukünftige Vergangenheit zu fixieren. Facebook prägt unser Erleben dahingehend, dass wir unser Leben als etwas betrachten, bei dem wir jederzeit kurz die Pausetaste drücken können, um es zu dokumentieren, als wären wir sammelwütige Museumskurator*innen. Unser Leben wird in die statischen Kategorien des Profils gepackt. Schon immer gab es eine Spannung zwischen dem Erlebnis um seiner selbst willen und dem Erlebnis zum Zwecke seiner Dokumentation, aber Social Media haben sie bis zum Zerreißen ausgereizt.

Temporäre Social Media

Als einen radikalen Einschnitt empfand Jurgenson Snapchat, eine App, mit der sich Leute gezielt Bilder zusenden können, die nur für wenige Sekunden sichtbar sind, bevor sie automatisch wieder gelöscht werden: temporäre Fotographie. Auch Snapchat ist ein „Versuch der Re-Inflation“. Nathan Jurgenson sieht Parallelen zu temporärer Kunst wie sie Eisskulpturen oder Objekte der Decay Art darstellen. Solche Fotos würden nicht gemacht, um gesammelt oder archiviert zu werden. Sie sind schwer fassbar und entziehen sich der Systematisierung und Taxonomie im Rahmen eines Bewertungsschemas. Sie lassen die Gegenwart dort, wo du sie vorgefunden hast, statt sie als zukünftige Vergangenheit einzufangen. „Temporäre Fotografie fühlt sich mehr wie das Leben selbst, und weniger wie eine Dokumentation desselben an. … Als solche, ist die temporäre Fotografie zwangsläufig weniger sentimental und nostalgisch. Indem sie schnell ist, ist temporäre Fotografie ein kleiner Protest gegen die Zeit.” Archivierte Social Media fokussieren auf die Details eines Fotos, während temporäre Social Media darauf fokussieren, was es bedeutet und in dir bewegt hat. Sie inspirieren die Erinnerung, weil sie die Möglichkeit des Vergessens feiern.

Derzeit ist Archivierung die Standardeinstellung der Social Networks und Angst vor Inkonsistenzen prägt die damit einhergehende Identitätspolitik. Temporäre Social Networks könnten dazu beitragen, dass wir unsere Identität weniger als archivierte (bzw. als die Möglichkeit zur Archivierung implizierende) begreifen, und stattdessen eine mehr in der Gegenwart verortete Identität annehmen.

„Die Standardeinstellung von Social Media-Nutzer*innen die danach verlangt, sich ständig aufzunehmen und zur Schau zu stellen, beeinträchtigt die unschätzbare Bedeutung des Spiels mit Identitäten. Anders gesagt: Viele von uns sehnen sich nach Social Media, die weniger wie ein Kaufhaus und mehr wie ein Park sind. Viel weniger standardisiert, eingeschränkt und kontrolliert, ja, der Park ist ein Ort, an dem Du etwas Dummes anstellen kannst. … Fehler jedoch sollten gar nicht erst vermieden werden, weil das genau das ist, was die dominanten sozialen Netzwerke von uns verlangen, und was sich in unserer ständigen Über-Vorsicht dabei niederschlägt, was wir da posten.“

Stattdessen wären Plattformen sinnvoll, die Raum dafür bieten, sich auszuprobieren, ohne dass dieses Verhalten immer gleich festlegt, wer du bist und was du tun kannst. Das könnte unsere Beziehung zu Onlinesichtbarkeit, Datenprivatsphäre, zu Rechten an Inhalten und dem Recht auf Vergessen sowie sozialem Stigma und Shaming verändern. Langfristig hält Nathan Jurgenson es für wichtig, dass wir insgesamt unsere kulturelle Normen ändern, die derzeit Perfektion, Normalisierung und sich nicht veränderndes Verhalten als höchstes Gut ausgeben. Stattdessen sollten wir unser sich stets veränderndes Selbst annehmen: „Wir könnten die Norm der Identitätskonsistenz aushöhlen, weil diese Norm sowieso niemand erfüllen kann, und Veränderung um ihrer selbst willen feiern. Veränderung wäre dann kein Makel mehr, sondern etwas Positives ein Beleg für unser Wachsen; ein Identitätsmerkmal und kein Identitätsmakel.


* = Nathan Jurgenson benutzt „Profile“ als Term für das Daten-Set unserer kompletten Onlinepräsenz, während „profile’“die Präsenz auf einem spezifischen Webservice ist.

Dieser Text erschien zuerst in Print, in der Testcard #24: Bug Report. Digital war besser.

Wer das alles spannend findet, sollte sich auf keinen Fall die von ihm mitorganisierte Konferenz THEORIZING THE WEB entgehen lassen, die am 17./18. April in New York stattfindet. Sie ist auch per Livestream und prima moderierten Twitter-Hashtags mitzuverfolgen. Das Programm liest sich auch dieses Jahr wieder superinteressant.

Leseempfehlungen:

Nathan Jurgenson:

The Disconnectionists“, in: The New Inquiry 22

The IRL Fetish“, in: The New Inquiry

When Atoms Meet Bits: Social Media, the Mobile Web and Augmented Revolution“, in: Future Internet

The Facebook Eye“, in: The Atlantic

Digital Dualism versus Augmented Reality“, in: Cyborgology

Digital Dualism and the Fallacy of Web Objectivity“, in: Cyborgology

The Data Self (A Dialectic)“, in: Cyborgology

The Liquid Self“, in: Snapchat Blog

Nathan Jurgenson on Photography, Self-Documentation & Social Media – interview by Jason Farman (Youtube)

On Sexting“, in: Nathan Jurgenson Blog

Rethinking Privacy and Publicty on Social Media: Part I“, in: Cyborgology

Why Privacy Is Actually Thriving Online“, in: Wired

“The Fan Dance: How Privacy Thrives in an Age of Hyper-Publicity”, in: Geert Lovinkg und Miriam Rasch (Hg.): Unlike Us Reader. Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2013. S. 61

Permission Slips“, in: The New Inquiry

Pics and It Didn’t Happen“, in: The New Inquiry

Temporary Social Media“, in: Snapchat Blog

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